Der menschliche Faktor
376 Seiten
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Castle aß, seit er vor über dreißig Jahren als blutiger Anfänger in die »Firma« eingetreten war, immer in einem Pub hinter der St. James's Street, in der Nähe seines Büros, zu Mittag. Hätte man ihn gefragt, warum er dort aß, hätte er die hervorragenden Würstchen gelobt; vielleicht wäre ihm ein anderes Bier lieber gewesen als Watney's, doch die Qualität der Würstchen machte das wieder wett. Castle war immer bereit, seine Handlungen zu rechtfertigen, selbst die harmlosesten, und er war stets auf die Minute pünktlich. Daher war er Schlag eins bereit zu gehen. Sein Assistent, Arthur Davis, mit dem er das Büro teilte, ging Punkt zwölf zum Lunch und kam, oft aber nur rein theoretisch, nach einer Stunde zurück. Es wurde allgemein vorausgesetzt, daß entweder Davis oder er anwesend sein mußten, für den Fall, daß ein dringendes Telegramm eintraf, damit sie den entschlüsselten Text entgegennehmen konnten; doch sie wußten beide sehr gut, daß in der Unterabteilung ihres Departments nie etwas wirklich dringend war. Der Zeitunterschied zwischen England und den verschiedenen Teilen Ost- und Südafrikas, mit denen sie befaßt waren, war gewöhnlich groß genug - selbst im Fall von Johannesburg betrug er etwas mehr als eine Stunde -, so daß sich außerhalb des Departments niemand wegen einer verspäteten Nachrichtenübermittlung den Kopf zu zerbrechen brauchte: Die Geschicke der Welt, erklärte Davis immer wieder, würden nie auf ihrem Kontinent entschieden, gleichgültig wie viele Botschaften China oder Rußland von Addis Abeba bis Conakry einrichten oder wie viele Kubaner landen mochten. Castle schrieb ein Memo für Davis: »Falls Zaire auf Nr. 172 antwortet, gehen Kopien ans Schatzamt und ans Außenministerium.« Er schaute auf seine Uhr. Davis hätte schon vor zehn Minuten zurück sein müssen. Castle nahm seine Aktentasche und legte einen Zettel hinein, der ihn daran erinnern sollte, was er besorgen mußte: für seine Frau im Käseladen in der Jermyn Street, ein Geschenk für seinen Sohn (zwei Packungen Maltesers), weil er ihn am Morgen angefaucht hatte, und außerdem den Roman »Clarissa Harlowe«, in dem er bisher nie weitergekommen war als bis zu Kapitel LXXIX im ersten Band. Sofort, als er die Lifttür und Davis' Schritte im Flur hörte, verließ er das Zimmer. Seine Lunchzeit mit Würstchen war um elf Minuten verkürzt worden. Anders als Davis kam er immer pünktlich zurück. Das war eine der Tugenden des Alters. Arthur Davis fiel in dem biederen Büro durch sein exzentrisches Aussehen auf. Als er sich jetzt vom anderen Ende des langen weißen Korridors her näherte, schien er direkt von einem mit Pferden verbrachten Wochenende auf dem Land oder von den Tribünen einer Pferderennbahn zu kommen. In seiner einfarbig grünlichen Tweedjacke mit scharlachrot gepunktetem Einstecktuch hätte er besser in ein Wettbüro gepaßt. Er glich einem Schauspieler, der falsch besetzt worden war: Wenn er versuchte, seinem Kostüm gerecht zu werden, schmiß er gewöhnlich die Rolle. Sah er in London aus, als komme er vom Land, wirkte er auf dem Land - etwa wenn er Castle besuchte - wie der typische Tourist aus der Stadt. »Auf die Sekunde pünktlich wie immer«, sagte Davis mit dem üblichen schuldbewußten Grinsen. »Meine Uhr geht ein bißchen vor«, sagte Castle und entschuldigte sich für die Kritik, die er nicht ausgesprochen hatte. »Eine Angstneurose vermutlich.« »Schmuggeln wir wieder mal Top-Secret-Dokumente hinaus, wie gewöhnlich?« fragte Davis scherzhaft und tat, als wolle er sich Castles Aktentasche bemächtigen. Sein Atem roch süßlich; er liebte den Portwein.
Im Südafrika der Apartheid verliebt sich der Brite Maurice Castle in Sarah, eine schwarze Agentin. Obwohl sie von einem anderen Mann schwanger ist, heiratet er sie, nachdem ihr ein kommunistischer Freund zur Flucht nach England verholfen hat. Aus Dankbarkeit liefert Castle fortan Informationen an den sowjetischen Geheimdienst. Doch nun muss er damit rechnen, als undichte Stelle des MI6 enttarnt zu werden. Graham Greenes später Spionageroman wurde von Otto Preminger verfilmt.
Graham Greene, 1904 in Berkhamsted / England geboren, 1991 in Vevey / Schweiz gestorben. Sein Werk umfasst alle Gattungen der Literatur, viele seiner Romane wurden mit großem Erfolg verfilmt. Bei Zsolnay sind zuletzt Der stille Amerikaner und Eine Art Leben in neuer Übersetzung erschienen. Eine Neuübersetzung von Der dritte Mann wurde 2016 publiziert.
Autor | Greene, Graham |
---|---|
Verlag | Zsolnay Verlag Wien |
ISBN | 9783552052765 |
ISBN/EAN | 9783552052765 |
Lieferzeit | 5 Werktage(inkl . Versand) |
Erscheinungsdatum | 16.05.2003 |
Lieferbarkeitsdatum | 28.02.2022 |
Einband | Gebunden |
Format | 3.4 x 21 x 13.5 |
Seitenzahl | 376 S. |
Gewicht | 519 |
Weitere Informationen
Verlag | Zsolnay Verlag Wien |
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ISBN | 9783552052765 |
Erscheinungsdatum | 16.05.2003 |
Einband | Gebunden |
Format | 3.4 x 21 x 13.5 |
Gewicht | 519 |
Castle aß, seit er vor über dreißig Jahren als blutiger Anfänger in die »Firma« eingetreten war, immer in einem Pub hinter der St. James's Street, in der Nähe seines Büros, zu Mittag. Hätte man ihn gefragt, warum er dort aß, hätte er die hervorragenden Würstchen gelobt; vielleicht wäre ihm ein anderes Bier lieber gewesen als Watney's, doch die Qualität der Würstchen machte das wieder wett. Castle war immer bereit, seine Handlungen zu rechtfertigen, selbst die harmlosesten, und er war stets auf die Minute pünktlich. Daher war er Schlag eins bereit zu gehen. Sein Assistent, Arthur Davis, mit dem er das Büro teilte, ging Punkt zwölf zum Lunch und kam, oft aber nur rein theoretisch, nach einer Stunde zurück. Es wurde allgemein vorausgesetzt, daß entweder Davis oder er anwesend sein mußten, für den Fall, daß ein dringendes Telegramm eintraf, damit sie den entschlüsselten Text entgegennehmen konnten; doch sie wußten beide sehr gut, daß in der Unterabteilung ihres Departments nie etwas wirklich dringend war. Der Zeitunterschied zwischen England und den verschiedenen Teilen Ost- und Südafrikas, mit denen sie befaßt waren, war gewöhnlich groß genug - selbst im Fall von Johannesburg betrug er etwas mehr als eine Stunde -, so daß sich außerhalb des Departments niemand wegen einer verspäteten Nachrichtenübermittlung den Kopf zu zerbrechen brauchte: Die Geschicke der Welt, erklärte Davis immer wieder, würden nie auf ihrem Kontinent entschieden, gleichgültig wie viele Botschaften China oder Rußland von Addis Abeba bis Conakry einrichten oder wie viele Kubaner landen mochten. Castle schrieb ein Memo für Davis: »Falls Zaire auf Nr. 172 antwortet, gehen Kopien ans Schatzamt und ans Außenministerium.« Er schaute auf seine Uhr. Davis hätte schon vor zehn Minuten zurück sein müssen. Castle nahm seine Aktentasche und legte einen Zettel hinein, der ihn daran erinnern sollte, was er besorgen mußte: für seine Frau im Käseladen in der Jermyn Street, ein Geschenk für seinen Sohn (zwei Packungen Maltesers), weil er ihn am Morgen angefaucht hatte, und außerdem den Roman »Clarissa Harlowe«, in dem er bisher nie weitergekommen war als bis zu Kapitel LXXIX im ersten Band. Sofort, als er die Lifttür und Davis' Schritte im Flur hörte, verließ er das Zimmer. Seine Lunchzeit mit Würstchen war um elf Minuten verkürzt worden. Anders als Davis kam er immer pünktlich zurück. Das war eine der Tugenden des Alters. Arthur Davis fiel in dem biederen Büro durch sein exzentrisches Aussehen auf. Als er sich jetzt vom anderen Ende des langen weißen Korridors her näherte, schien er direkt von einem mit Pferden verbrachten Wochenende auf dem Land oder von den Tribünen einer Pferderennbahn zu kommen. In seiner einfarbig grünlichen Tweedjacke mit scharlachrot gepunktetem Einstecktuch hätte er besser in ein Wettbüro gepaßt. Er glich einem Schauspieler, der falsch besetzt worden war: Wenn er versuchte, seinem Kostüm gerecht zu werden, schmiß er gewöhnlich die Rolle. Sah er in London aus, als komme er vom Land, wirkte er auf dem Land - etwa wenn er Castle besuchte - wie der typische Tourist aus der Stadt. »Auf die Sekunde pünktlich wie immer«, sagte Davis mit dem üblichen schuldbewußten Grinsen. »Meine Uhr geht ein bißchen vor«, sagte Castle und entschuldigte sich für die Kritik, die er nicht ausgesprochen hatte. »Eine Angstneurose vermutlich.« »Schmuggeln wir wieder mal Top-Secret-Dokumente hinaus, wie gewöhnlich?« fragte Davis scherzhaft und tat, als wolle er sich Castles Aktentasche bemächtigen. Sein Atem roch süßlich; er liebte den Portwein.
Im Südafrika der Apartheid verliebt sich der Brite Maurice Castle in Sarah, eine schwarze Agentin. Obwohl sie von einem anderen Mann schwanger ist, heiratet er sie, nachdem ihr ein kommunistischer Freund zur Flucht nach England verholfen hat. Aus Dankbarkeit liefert Castle fortan Informationen an den sowjetischen Geheimdienst. Doch nun muss er damit rechnen, als undichte Stelle des MI6 enttarnt zu werden. Graham Greenes später Spionageroman wurde von Otto Preminger verfilmt.
Graham Greene, 1904 in Berkhamsted / England geboren, 1991 in Vevey / Schweiz gestorben. Sein Werk umfasst alle Gattungen der Literatur, viele seiner Romane wurden mit großem Erfolg verfilmt. Bei Zsolnay sind zuletzt Der stille Amerikaner und Eine Art Leben in neuer Übersetzung erschienen. Eine Neuübersetzung von Der dritte Mann wurde 2016 publiziert.
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