Höhenangst

Winkelmann, Saskia

196 Seiten

27,00 €
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Ich werde angerempelt. Ich verlangsame meine Schritte, lasse ein paar Menschen vorbeigehen. Ich stehe auf einer Rolltreppe. Ich fahre in den oberen Stock des Bahnhofes. Ich schüttle den Kopf, als mich jemand ansprechen will. Ich fahre auf der anderen Seite wieder runter. Es sind viele Leute unterwegs, sie tragen Einkaufstaschen. Sie schauen mich an. Ich höre nicht, was sie zueinander sagen, worüber sie lachen. Sie reden über mich. Ich fühle mich, als würde ich leuchten. Ich fühle mich gross und monströs. Ich betrachte mich in einer Scheibe, aber ich sehe mir dein Fehlen nicht an. Ich bahne mir einen Weg durch die Menschen, die mir den Weg versperren, die schlendern, als hätten sie kein Ziel. Fast laufe ich, muss mich konzentrieren, um nicht hinzufallen, ich bin aus Gummi. Ich halte mich an einem Treppengeländer fest, um nicht einzuknicken, nur so schaffe ich es wieder auf den grossen Platz. Braune, glitschige Blätter bedecken die Gehwege. Und kurz bin ich mir sicher, dass du darunter liegst. Die Strassenlaternen gehen an. Erst als ich mir durch die nassen Haare fahre, bemerke ich, dass es nieselt, und ziehe die Kapuze hoch. Ich stehe an einer Ampel und schaue mich um, schaue den Autos nach, die anfahren und abbremsen im stockenden Feierabendverkehr. Die roten und weissen Lichter. Meine Sicht schwindet. Im Augenwinkel sehen alle aus wie du. Jedes Mal durchfährt es mich wie Strom. Aber wenn ich mich umdrehe, versteckst du dich. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Ich drehe mich um und laufe in die andere Richtung. Es fühlt sich an wie gejagt werden.Hat irgendwer schon meinen Vater angerufen - was wird jetzt passieren? Ich muss mich ruhig atmen. Ich bin plötzlich sehr müde, sehr schwach, sehr hungrig. Ich fühle meinen Schlüsselbund in der Tasche, ich muss mich nur dort vorne in eine Tram setzen, dann schaffe ich es bis zu meiner Mansarde. Aber ich komme nicht richtig vorwärts. Die Tram fährt los. Ich warte auf die nächste. Meine Beine kribbeln. Ich ­brauche jetzt ganz dringend etwas zur Beruhigung. Zum Glück habe ich noch etwas in meiner Tasche, um runterzukommen. Ich schlucke die Tablette mit viel Spucke, das tut im Hals weh, ich würge daran, ich schlucke dreizehn Mal, dann ist sie unten und ich spüre sie in meinem Magen wie Scherben. Es tut gut zu sitzen, gefahren zu werden. Weil es wieder dunkel geworden ist, wird es auch in mir stiller. Es sind nicht viele Menschen in der Tram. Ganz vorne zwei und in der Mitte noch jemand. Mein Blick bleibt an einer Gratiszeitung am Boden hängen. Die Zeitung liegt täglich auf jedem freien Sitz und an den Haltestellen und im Bahnhof auf den Perrons. Es ist unmöglich, ihren Schlagzeilen zu entkommen. Ich beuge mich zu der heutigen Ausgabe, hebe sie hoch. Sie zeigt unseren Wald. Ich kenne diesen Ausblick. Wenn man auf dem Hügel steht, dem ersten von vielen, die dahinter noch kommen, dann sieht man den Wald von dieser Seite. Nicht weit von der Hütte. Wir sind schon oft da hinaufgestiegen im gelben Spätnachmittagslicht und haben in die Weite geschaut. Da müsstest du stehen. Du müsstest die Augen zusammenkneifen, deine Mütze zurechtrücken, du müsstest einen Kaugummi kauen, lässig und manisch zugleich. Ich starre den Wald an, der an mir zieht, bis sich endlich die erleichternde Wirkung der Tablette auszubreiten beginnt. Gleich döse ich ein. Und dann bin ich mittendrin.

Die achtzehnjährige Protagonistin lebt mit und abhängig von ihrer Mutter, die das Haus kaum verlässt, in einer Schweizer Kleinstadt. Ihr Rückzugsort ist der Botanische Garten,Freund:innen hat sie keine, seit ihre Wüstenmäuse gestorben sind. Sie steht kurz vor dem Abschluss des Gymnasiums, langweilt sich und weiss nicht, wohin mit sich. Als sie Jo kennenlernt, scheint sich endlich etwas in Bewegung zu setzen. Jo schert sich nicht darum, was andere denken, Jo ist immun gegen Zuschreibungen, Jo traut sich alles. Ein illegaler Kellerclub und eine Jagdhütte werden zu Trainingsplätzen für erste Erfahrungen mit Drogen, elektronischer Musik und Sex. Zwischen den beiden entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Doch dann gerät alles ausser Kontrolle. Ein Roman über Finden und Verlieren, über Liebe und Weltflucht. Das Debüt von Saskia Winkelmann. »Zwei Menschen begegnen einander, und damit zwei Welten - neu ist das nicht, meinen wir erst. Aber dann lesen wir, wie Saskia Winkelmann in Höhenangst davon erzählt: einfach grossartig. Kluge Prosa, raffiniert und federnd, mal tastend, dann wieder schweifend, immer kühn und präzis. Dieser Roman ist ein langer Glücksmoment.« Martin Zingg

Saskia Winkelmann, geboren 1990 in Thun, hat Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien und Contemporary Arts Practice an der Hochschule der Künste Bern studiert. Sie schreibt, veranstaltet, moderiert und ist unter dem Alias Kia Mann als DJ unterwegs. Ihre Texte sind in Literaturzeitschriften, Zeitungen, einem Zine, auf Bühnen und auf einem Plattencover erschienen. Sie glaubt am ehesten an die Kraft von Kollektiven und an radikale Ehrlichkeit, aber auch, dass nichts sicher ist, ausser dass sich alles ändert. »Höhenangst« ist ihr erster Roman. Sie lebt am Rande des Bremgartenwaldes in Bern.

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Autor Winkelmann, Saskia
Verlag verlag die brotsuppe
ISBN 9783038670803
ISBN/EAN 9783038670803
Lieferzeit 5 Werktage(inkl . Versand)
Erscheinungsdatum 19.12.2022
Lieferbarkeitsdatum 06.10.2023
Einband Gebunden
Format 2.2 x 20 x 13.2
Seitenzahl 196 S.
Gewicht 310

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Verlag verlag die brotsuppe
ISBN 9783038670803
Erscheinungsdatum 19.12.2022
Einband Gebunden
Format 2.2 x 20 x 13.2
Gewicht 310

Ich werde angerempelt. Ich verlangsame meine Schritte, lasse ein paar Menschen vorbeigehen. Ich stehe auf einer Rolltreppe. Ich fahre in den oberen Stock des Bahnhofes. Ich schüttle den Kopf, als mich jemand ansprechen will. Ich fahre auf der anderen Seite wieder runter. Es sind viele Leute unterwegs, sie tragen Einkaufstaschen. Sie schauen mich an. Ich höre nicht, was sie zueinander sagen, worüber sie lachen. Sie reden über mich. Ich fühle mich, als würde ich leuchten. Ich fühle mich gross und monströs. Ich betrachte mich in einer Scheibe, aber ich sehe mir dein Fehlen nicht an. Ich bahne mir einen Weg durch die Menschen, die mir den Weg versperren, die schlendern, als hätten sie kein Ziel. Fast laufe ich, muss mich konzentrieren, um nicht hinzufallen, ich bin aus Gummi. Ich halte mich an einem Treppengeländer fest, um nicht einzuknicken, nur so schaffe ich es wieder auf den grossen Platz. Braune, glitschige Blätter bedecken die Gehwege. Und kurz bin ich mir sicher, dass du darunter liegst. Die Strassenlaternen gehen an. Erst als ich mir durch die nassen Haare fahre, bemerke ich, dass es nieselt, und ziehe die Kapuze hoch. Ich stehe an einer Ampel und schaue mich um, schaue den Autos nach, die anfahren und abbremsen im stockenden Feierabendverkehr. Die roten und weissen Lichter. Meine Sicht schwindet. Im Augenwinkel sehen alle aus wie du. Jedes Mal durchfährt es mich wie Strom. Aber wenn ich mich umdrehe, versteckst du dich. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Ich drehe mich um und laufe in die andere Richtung. Es fühlt sich an wie gejagt werden.Hat irgendwer schon meinen Vater angerufen - was wird jetzt passieren? Ich muss mich ruhig atmen. Ich bin plötzlich sehr müde, sehr schwach, sehr hungrig. Ich fühle meinen Schlüsselbund in der Tasche, ich muss mich nur dort vorne in eine Tram setzen, dann schaffe ich es bis zu meiner Mansarde. Aber ich komme nicht richtig vorwärts. Die Tram fährt los. Ich warte auf die nächste. Meine Beine kribbeln. Ich ­brauche jetzt ganz dringend etwas zur Beruhigung. Zum Glück habe ich noch etwas in meiner Tasche, um runterzukommen. Ich schlucke die Tablette mit viel Spucke, das tut im Hals weh, ich würge daran, ich schlucke dreizehn Mal, dann ist sie unten und ich spüre sie in meinem Magen wie Scherben. Es tut gut zu sitzen, gefahren zu werden. Weil es wieder dunkel geworden ist, wird es auch in mir stiller. Es sind nicht viele Menschen in der Tram. Ganz vorne zwei und in der Mitte noch jemand. Mein Blick bleibt an einer Gratiszeitung am Boden hängen. Die Zeitung liegt täglich auf jedem freien Sitz und an den Haltestellen und im Bahnhof auf den Perrons. Es ist unmöglich, ihren Schlagzeilen zu entkommen. Ich beuge mich zu der heutigen Ausgabe, hebe sie hoch. Sie zeigt unseren Wald. Ich kenne diesen Ausblick. Wenn man auf dem Hügel steht, dem ersten von vielen, die dahinter noch kommen, dann sieht man den Wald von dieser Seite. Nicht weit von der Hütte. Wir sind schon oft da hinaufgestiegen im gelben Spätnachmittagslicht und haben in die Weite geschaut. Da müsstest du stehen. Du müsstest die Augen zusammenkneifen, deine Mütze zurechtrücken, du müsstest einen Kaugummi kauen, lässig und manisch zugleich. Ich starre den Wald an, der an mir zieht, bis sich endlich die erleichternde Wirkung der Tablette auszubreiten beginnt. Gleich döse ich ein. Und dann bin ich mittendrin.

Die achtzehnjährige Protagonistin lebt mit und abhängig von ihrer Mutter, die das Haus kaum verlässt, in einer Schweizer Kleinstadt. Ihr Rückzugsort ist der Botanische Garten,Freund:innen hat sie keine, seit ihre Wüstenmäuse gestorben sind. Sie steht kurz vor dem Abschluss des Gymnasiums, langweilt sich und weiss nicht, wohin mit sich. Als sie Jo kennenlernt, scheint sich endlich etwas in Bewegung zu setzen. Jo schert sich nicht darum, was andere denken, Jo ist immun gegen Zuschreibungen, Jo traut sich alles. Ein illegaler Kellerclub und eine Jagdhütte werden zu Trainingsplätzen für erste Erfahrungen mit Drogen, elektronischer Musik und Sex. Zwischen den beiden entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Doch dann gerät alles ausser Kontrolle. Ein Roman über Finden und Verlieren, über Liebe und Weltflucht. Das Debüt von Saskia Winkelmann. »Zwei Menschen begegnen einander, und damit zwei Welten - neu ist das nicht, meinen wir erst. Aber dann lesen wir, wie Saskia Winkelmann in Höhenangst davon erzählt: einfach grossartig. Kluge Prosa, raffiniert und federnd, mal tastend, dann wieder schweifend, immer kühn und präzis. Dieser Roman ist ein langer Glücksmoment.« Martin Zingg

Saskia Winkelmann, geboren 1990 in Thun, hat Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien und Contemporary Arts Practice an der Hochschule der Künste Bern studiert. Sie schreibt, veranstaltet, moderiert und ist unter dem Alias Kia Mann als DJ unterwegs. Ihre Texte sind in Literaturzeitschriften, Zeitungen, einem Zine, auf Bühnen und auf einem Plattencover erschienen. Sie glaubt am ehesten an die Kraft von Kollektiven und an radikale Ehrlichkeit, aber auch, dass nichts sicher ist, ausser dass sich alles ändert. »Höhenangst« ist ihr erster Roman. Sie lebt am Rande des Bremgartenwaldes in Bern.

 

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