STADT AUF ZEIT

Pellegrino, Bruno

140 Seiten

27,00 €
Inkl. 7% Steuern

Lieferzeit: 5 Werktage(inkl . Versand)

Bevor mich die Stiftung im Herbst kontaktiert hatte, hatte ich von der Übersetzerin noch nie gehört. Allerdings hat von Übersetzern überhaupt nie irgendjemand schon mal etwas gehört - so hat sie selbst es in einem Interview gesagt, das ich später entdecken würde -, schon gar nicht, wenn es sich um eine Frau handelt. Man hatte ihr vor kurzem einen Preis für ihr Lebenswerk zugesprochen, und dieses Momentum wollte die Stiftung nutzen. Meine Aufgabe war im Grunde einfach, es ging um eine Bestandsaufnahme, darum, die Unterlagen der Übersetzerin zu sichten. Die gesammelten Dokumente würden anschliessend Eingang in eine Bibliothek finden, wo man sie archivieren und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen würde. Noch befanden sich alle Materialien in ihrer Wohnung, ich musste mich also in die Stadt aufmachen, in der sie sich dreissig Jahre vorher, noch vor meiner Geburt, niedergelassen hatte. Die Stiftung bat mich, so bald wie möglich anzufangen. Ich hatte gerade mein Studium abgeschlossen, wohnte in einer WG, ich könnte ab sofort. Der Sekretär dankte mir, gleich zum Jahresbeginn sei ideal. Das Zugticket schickte man mir per Post, einfache Fahrt. Mein Vertrag war zeitlich nicht begrenzt, sobald ich vor Ort wäre, sollte ich selbst abschätzen, wie lange ich brauchen würde. Ich hatte eher aus Neugier als aus echtem Interesse an der Aufgabe zugesagt. Ich kannte die Stadt nicht, kannte nur die kitschigen Hochglanzbilder, die man mit ihr assoziierte. Ich hätte dorthin keinen Wochenendtrip unternehmen wollen, aber die Vorstellung, dort für eine Zeit zu wohnen, reizte mich. Den ganzen Herbst lang sagte ich mir ihren Namen vor, den Namen, den mein Umfeld nennen würde, um meine Abwesenheit zu erklären. Und abwesend sein, das war alles, was ich wollte.

Ein junger Mann erhält den Auftrag, das Werk einer gefeierten Übersetzerin zu sichten. Dafür reist er in eine Stadt, die von Wasser nicht nur umgeben ist, sondern durchdrungen wird. Überall kriecht die Feuchte ins Gemäuer, ein bläulicher Schimmer wabert über die Zimmerdecke, es tropft und sickert, Sirenen verkünden, dass das Meer die Stadt erobert. In der verlassenen Wohnung der Übersetzerin sortiert er Bücher, Manuskripte, Zettel und Notizen, durchforstet Schränke und Schubladen. Er tastet über staubige Oberflächen und knittriges Papier. Wandelt auf den Spuren einer Unbekannten, bis die Grenze zwischen ihm und ihr so porös scheint wie das unterspülte Mauerwerk der Stadt. Bruno Pellegrinos grosse Kunst besteht darin, auch den leisen Stimmen Gehör zu verschaffen. Mit grosser Leichtigkeit erzählt er poetisch und fliessend vom Vergessen und Vergehen, vom Bewahren und Neu-Finden. Für seinen Roman »Dans la ville provisoire« wurde er u.a. mit dem Prix Michel-Dentan und dem Prix Bibliomedia ausgezeichnet.

Bruno Pellegrino, geboren 1988, lebt in Lausanne. Er studierte Literaturwissenschaften, veröffentlichte zahlreiche Texte in Literaturzeitschriften. Für seine Novelle »L'idiot du village« (2011) wurde er mit dem Prix du jeune écrivain ausgezeichnet. Pellegrino ist Mitbegründer von AJAR, einer Gruppe junger Autorinnen und Autoren in der Romandie. Nach »Atlas Hotel« (auf Deutsch erschienen im Rotpunktverlag) und »Wo der August ein Herbstmonat ist« (2021 erschienen im verlag die brotsuppe), ist »Dans la ville provisoire« sein dritter Roman.

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Autor Pellegrino, Bruno
Verlag verlag die brotsuppe
ISBN 9783038670889
ISBN/EAN 9783038670889
Lieferzeit 5 Werktage(inkl . Versand)
Erscheinungsdatum 11.05.2023
Lieferbarkeitsdatum 14.12.2023
Einband Gebunden
Format 1.8 x 19.9 x 13
Seitenzahl 140 S.
Gewicht 242

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Verlag verlag die brotsuppe
ISBN 9783038670889
Erscheinungsdatum 11.05.2023
Einband Gebunden
Format 1.8 x 19.9 x 13
Gewicht 242

Bevor mich die Stiftung im Herbst kontaktiert hatte, hatte ich von der Übersetzerin noch nie gehört. Allerdings hat von Übersetzern überhaupt nie irgendjemand schon mal etwas gehört - so hat sie selbst es in einem Interview gesagt, das ich später entdecken würde -, schon gar nicht, wenn es sich um eine Frau handelt. Man hatte ihr vor kurzem einen Preis für ihr Lebenswerk zugesprochen, und dieses Momentum wollte die Stiftung nutzen. Meine Aufgabe war im Grunde einfach, es ging um eine Bestandsaufnahme, darum, die Unterlagen der Übersetzerin zu sichten. Die gesammelten Dokumente würden anschliessend Eingang in eine Bibliothek finden, wo man sie archivieren und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen würde. Noch befanden sich alle Materialien in ihrer Wohnung, ich musste mich also in die Stadt aufmachen, in der sie sich dreissig Jahre vorher, noch vor meiner Geburt, niedergelassen hatte. Die Stiftung bat mich, so bald wie möglich anzufangen. Ich hatte gerade mein Studium abgeschlossen, wohnte in einer WG, ich könnte ab sofort. Der Sekretär dankte mir, gleich zum Jahresbeginn sei ideal. Das Zugticket schickte man mir per Post, einfache Fahrt. Mein Vertrag war zeitlich nicht begrenzt, sobald ich vor Ort wäre, sollte ich selbst abschätzen, wie lange ich brauchen würde. Ich hatte eher aus Neugier als aus echtem Interesse an der Aufgabe zugesagt. Ich kannte die Stadt nicht, kannte nur die kitschigen Hochglanzbilder, die man mit ihr assoziierte. Ich hätte dorthin keinen Wochenendtrip unternehmen wollen, aber die Vorstellung, dort für eine Zeit zu wohnen, reizte mich. Den ganzen Herbst lang sagte ich mir ihren Namen vor, den Namen, den mein Umfeld nennen würde, um meine Abwesenheit zu erklären. Und abwesend sein, das war alles, was ich wollte.

Ein junger Mann erhält den Auftrag, das Werk einer gefeierten Übersetzerin zu sichten. Dafür reist er in eine Stadt, die von Wasser nicht nur umgeben ist, sondern durchdrungen wird. Überall kriecht die Feuchte ins Gemäuer, ein bläulicher Schimmer wabert über die Zimmerdecke, es tropft und sickert, Sirenen verkünden, dass das Meer die Stadt erobert. In der verlassenen Wohnung der Übersetzerin sortiert er Bücher, Manuskripte, Zettel und Notizen, durchforstet Schränke und Schubladen. Er tastet über staubige Oberflächen und knittriges Papier. Wandelt auf den Spuren einer Unbekannten, bis die Grenze zwischen ihm und ihr so porös scheint wie das unterspülte Mauerwerk der Stadt. Bruno Pellegrinos grosse Kunst besteht darin, auch den leisen Stimmen Gehör zu verschaffen. Mit grosser Leichtigkeit erzählt er poetisch und fliessend vom Vergessen und Vergehen, vom Bewahren und Neu-Finden. Für seinen Roman »Dans la ville provisoire« wurde er u.a. mit dem Prix Michel-Dentan und dem Prix Bibliomedia ausgezeichnet.

Bruno Pellegrino, geboren 1988, lebt in Lausanne. Er studierte Literaturwissenschaften, veröffentlichte zahlreiche Texte in Literaturzeitschriften. Für seine Novelle »L'idiot du village« (2011) wurde er mit dem Prix du jeune écrivain ausgezeichnet. Pellegrino ist Mitbegründer von AJAR, einer Gruppe junger Autorinnen und Autoren in der Romandie. Nach »Atlas Hotel« (auf Deutsch erschienen im Rotpunktverlag) und »Wo der August ein Herbstmonat ist« (2021 erschienen im verlag die brotsuppe), ist »Dans la ville provisoire« sein dritter Roman.

 

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