Zuunterst immer Wolle

Flatland, Helga

280 Seiten

25,00 €
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Sie ruft erst um halb elf Uhr abends an, das Klingeln des Telefons weckt mich jäh, ich war vorm Fernseher eingeschlafen. 'Schläfst du?' fragt sie, als sie meine Stimme hört, wirkt überrascht, fast skeptisch. 'Ach, nein', sage ich. 'ich sitze nur über der Korrektur von ein paar Schulaufgaben.' Für ein paar Sekunden wird es still. 'Du, Sigrid, es gibt etwas, über das ich mit dir sprechen muß. ' Ich schlucke, fasse mir an den Bauch, spüre die Krebszellen sich in den Tiefen meiner Eingeweide in irrsinniger Geschwindigkeit vermehren. Sie antwortet nicht, aber ich höre sie tief einatmen. 'Ich weiß nicht, ob ich dir erzählt habe, daß ich mich seit einer Weile etwas angeschlagen fühle', fange ich an und weiß ganz genau, daß ich kein Wort über die Übelkeit und die Schlappheit verloren habe, die ich wochenlang zu ignorieren versuchte; wie ich mich auf dem Weg zu der kleinen Hütte dreihundert Meter oberhalb unseres Hauses auf halber Strecke zum Ausruhen auf einen Stein setzen mußte; wie ich plötzlich merkte, daß die Hosen am Bauch locker saßen und an Schenkeln und Po schlackerten; wie ich es auf den November geschoben habe, der mich mit seiner umfassenden, ereignislosen Dunkelheit immer depressiv macht. Sigrid antwortet noch immer nicht. Ich hoffe, sie atmet. 'Ich habe gedacht, das kommt von der Jahreszeit, daß es draußen so früh dunkel wird, du weißt ja, wie ich die Dunkelheit hasse', spreche ich weiter, höre das Selbstmitleid mit Sigrids Ohren, würge mich selbst ab. 'Aber dann habe ich trotzdem einen Termin beim Arzt gemacht, ich wollte dich nicht damit belasten, und du hättest ja auch nichts anderes sagen können, als daß ich zum Arzt gehen und ein paar Untersuchungen machen lassen soll.' spreche ich weiter, spüre, daß Sigrid ausschließlich Kritik hört, als wollte ich ihr ein schlechtes Gewissen machen. Sie räuspert sich. Ich gebe ihr einen Augenblick, um eventuell etwas zu sagen, sie bleibt stumm. 'Und man hat mich zu einer Untersuchung geschickt, bei der sich herausgestellt hat, daß in meinem Dickdarm Krebs ist', sage ich schließlich. 'Soll operiert werden?' fragt Sigrid nahtlos nach. 'Ja, schon nächsten Dienstag', antworte ich. 'Und die Ärzte sind sehr optimistisch, Sigrid, sie haben gesagt, sie seien voller Hoffnung, daß ich wieder ganz gesund werde.' 'Das ist gut. Aber irgendwelche Anzeichen dafür, daß er gestreut hat, haben sie nicht gefunden?' fragt Sigrid nach, weiterhin ganz ruhig, ich spüre einen Anflug von Enttäuschung. 'Nein, dazu haben sie nichts gesagt', antworte ich. 'Aber im Augenblick ist das Wichtigste für mich, daß du und Magnus euch nicht zu viele Sorgen macht. Alles wird gut.' 'Nein, Mama, für dich sollte jetzt das Wichtigste sein, dich vorzubereiten', antwortet sie. Ich muß ihr ihre Art der Reaktion zugestehen, aber die kühle Ruhe in Sigrids Stimme schürt sowas wie Verzweiflung in mir. 'Natürlich, ich werde mich natürlich vorbereiten. aber ich gestehe, ich habe ein wenig Angst.' Meine Stimme zittert. Mir wird klar, daß ich wieder zu große Erwartungen an das Gespräch, an Sigrids Reaktion, gehabt habe und sich ein Teil in mir ein bißchen darauf gefreut hat, ihr davon zu erzählen, weil ich dachte, es würde etwas in ihr erzwingen, oder zwischen uns. 'Ich muß mit Amir und Camilla sprechen, aber ich gehe davon aus, daß ich meine Patienten abgeben kann und komme spätestens am Montag', sagt Sigrid, die Angst verfliegt im Nu. 'Natürlich brauchst du nicht nach Hause kommen', flüstere ich, meine Stimme ist beinahe tonlos, ich bin vor Dankbarkeit überwältigt, und glücklicherweise hat Sigrid es nicht gehört oder überhört.

Sigrid ist Ärztin, lebt in Oslo, in der Großstadt. Bloß weg vom Dorf, wo sie aufwuchs und den körperlichen Verfall ihres Vaters beobachten mußte, dachte sie damals, als sie mit Mia schwanger war. Deren Vater Jens, ebenfalls Arzt, verließ sie noch vor der Geburt. Mit dem handfesten Aslak beginnt sie ein neues Leben. Und dann taucht plötzlich Jens auf, will Zeit mit Mia verbringen, und Sigrid wird von ihren widersprüchlichen Gefühlen ihm gegenüber aus der Bahn geworfen. Doch noch mehr als das lähmt sie die Nachricht, daß ihre Mutter Anne Krebs hat. Das Verhältnis zu ihr ist alles andere als einfach. Weder Sigrid noch Anne finden eine Sprache, ihre Gefühle zu offenbaren. Zuviel ist in der Vergangenheit passiert, zu oft hat sich Sigrid von der Mutter vernachlässigt und übergangen gefühlt. Und so unterdrücken Tochter wie Mutter zunächst ihre spontanen Impulse und blicken scheinbar hilflos der sich abzeichnenden Katastrophe entgegen. Finden sie einen Ausweg, oder werden sie wieder aneinander scheitern? Helga Flatland zeichnet dieses Familienporträt so schnörkellos und aus wechselnden Perspektiven, wie man es bereits aus ihrem vorigen Roman 'Eine moderne Familie' kennt. Sie läßt sich auf ihre Figuren empathisch ein, respektiert aber auch ihre Freiheiten. Und vor allem: Sie urteilt nicht. Denn es kommt ja nicht darauf an, wer woran wann schuld war, sondern einzig darauf: Wie machen wir weiter?

Helga Flatland hat norwegische Sprache und Literatur an der Universität Oslo studiert und danach ein Aufbaustudium an der Westerdals School of Communication absolviert. Sie lebt in Oslo. 'Zuunterst immer Wolle' (Originaltitel: 'Et liv forbi') ist ihr sechster Roman. Bereits im Weidle Verlag erschienen: 'Eine moderne Familie'. Elke Ranzinger studierte Theaterwissenschaft, Nordistik und Neuere Deutsche Literatur in Mu¨nchen und Bergen. Am Landestheater Linz brachte sie als Schauspieldramaturgin Stu¨cke von Aristophanes bis Jelinek mit auf die Bu¨hne. 2015 begann sie mit dem Übersetzen. Sie lebt in Berlin. Für den Weidle Verlag übersetzte sie bereits Helga Flatlands Roman 'Eine moderne Familie'.

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Autor Flatland, Helga
Verlag Weidle Verlag
ISBN 9783949441028
ISBN/EAN 9783949441028
Lieferzeit 5 Werktage(inkl . Versand)
Erscheinungsdatum 14.12.2021
Lieferbarkeitsdatum 15.03.2022
Einband Paperback
Format 1.7 x 20.5 x 13
Seitenzahl 280 S.
Gewicht 367

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Verlag Weidle Verlag
ISBN 9783949441028
Erscheinungsdatum 14.12.2021
Einband Paperback
Format 1.7 x 20.5 x 13
Gewicht 367

Sie ruft erst um halb elf Uhr abends an, das Klingeln des Telefons weckt mich jäh, ich war vorm Fernseher eingeschlafen. 'Schläfst du?' fragt sie, als sie meine Stimme hört, wirkt überrascht, fast skeptisch. 'Ach, nein', sage ich. 'ich sitze nur über der Korrektur von ein paar Schulaufgaben.' Für ein paar Sekunden wird es still. 'Du, Sigrid, es gibt etwas, über das ich mit dir sprechen muß. ' Ich schlucke, fasse mir an den Bauch, spüre die Krebszellen sich in den Tiefen meiner Eingeweide in irrsinniger Geschwindigkeit vermehren. Sie antwortet nicht, aber ich höre sie tief einatmen. 'Ich weiß nicht, ob ich dir erzählt habe, daß ich mich seit einer Weile etwas angeschlagen fühle', fange ich an und weiß ganz genau, daß ich kein Wort über die Übelkeit und die Schlappheit verloren habe, die ich wochenlang zu ignorieren versuchte; wie ich mich auf dem Weg zu der kleinen Hütte dreihundert Meter oberhalb unseres Hauses auf halber Strecke zum Ausruhen auf einen Stein setzen mußte; wie ich plötzlich merkte, daß die Hosen am Bauch locker saßen und an Schenkeln und Po schlackerten; wie ich es auf den November geschoben habe, der mich mit seiner umfassenden, ereignislosen Dunkelheit immer depressiv macht. Sigrid antwortet noch immer nicht. Ich hoffe, sie atmet. 'Ich habe gedacht, das kommt von der Jahreszeit, daß es draußen so früh dunkel wird, du weißt ja, wie ich die Dunkelheit hasse', spreche ich weiter, höre das Selbstmitleid mit Sigrids Ohren, würge mich selbst ab. 'Aber dann habe ich trotzdem einen Termin beim Arzt gemacht, ich wollte dich nicht damit belasten, und du hättest ja auch nichts anderes sagen können, als daß ich zum Arzt gehen und ein paar Untersuchungen machen lassen soll.' spreche ich weiter, spüre, daß Sigrid ausschließlich Kritik hört, als wollte ich ihr ein schlechtes Gewissen machen. Sie räuspert sich. Ich gebe ihr einen Augenblick, um eventuell etwas zu sagen, sie bleibt stumm. 'Und man hat mich zu einer Untersuchung geschickt, bei der sich herausgestellt hat, daß in meinem Dickdarm Krebs ist', sage ich schließlich. 'Soll operiert werden?' fragt Sigrid nahtlos nach. 'Ja, schon nächsten Dienstag', antworte ich. 'Und die Ärzte sind sehr optimistisch, Sigrid, sie haben gesagt, sie seien voller Hoffnung, daß ich wieder ganz gesund werde.' 'Das ist gut. Aber irgendwelche Anzeichen dafür, daß er gestreut hat, haben sie nicht gefunden?' fragt Sigrid nach, weiterhin ganz ruhig, ich spüre einen Anflug von Enttäuschung. 'Nein, dazu haben sie nichts gesagt', antworte ich. 'Aber im Augenblick ist das Wichtigste für mich, daß du und Magnus euch nicht zu viele Sorgen macht. Alles wird gut.' 'Nein, Mama, für dich sollte jetzt das Wichtigste sein, dich vorzubereiten', antwortet sie. Ich muß ihr ihre Art der Reaktion zugestehen, aber die kühle Ruhe in Sigrids Stimme schürt sowas wie Verzweiflung in mir. 'Natürlich, ich werde mich natürlich vorbereiten. aber ich gestehe, ich habe ein wenig Angst.' Meine Stimme zittert. Mir wird klar, daß ich wieder zu große Erwartungen an das Gespräch, an Sigrids Reaktion, gehabt habe und sich ein Teil in mir ein bißchen darauf gefreut hat, ihr davon zu erzählen, weil ich dachte, es würde etwas in ihr erzwingen, oder zwischen uns. 'Ich muß mit Amir und Camilla sprechen, aber ich gehe davon aus, daß ich meine Patienten abgeben kann und komme spätestens am Montag', sagt Sigrid, die Angst verfliegt im Nu. 'Natürlich brauchst du nicht nach Hause kommen', flüstere ich, meine Stimme ist beinahe tonlos, ich bin vor Dankbarkeit überwältigt, und glücklicherweise hat Sigrid es nicht gehört oder überhört.

Sigrid ist Ärztin, lebt in Oslo, in der Großstadt. Bloß weg vom Dorf, wo sie aufwuchs und den körperlichen Verfall ihres Vaters beobachten mußte, dachte sie damals, als sie mit Mia schwanger war. Deren Vater Jens, ebenfalls Arzt, verließ sie noch vor der Geburt. Mit dem handfesten Aslak beginnt sie ein neues Leben. Und dann taucht plötzlich Jens auf, will Zeit mit Mia verbringen, und Sigrid wird von ihren widersprüchlichen Gefühlen ihm gegenüber aus der Bahn geworfen. Doch noch mehr als das lähmt sie die Nachricht, daß ihre Mutter Anne Krebs hat. Das Verhältnis zu ihr ist alles andere als einfach. Weder Sigrid noch Anne finden eine Sprache, ihre Gefühle zu offenbaren. Zuviel ist in der Vergangenheit passiert, zu oft hat sich Sigrid von der Mutter vernachlässigt und übergangen gefühlt. Und so unterdrücken Tochter wie Mutter zunächst ihre spontanen Impulse und blicken scheinbar hilflos der sich abzeichnenden Katastrophe entgegen. Finden sie einen Ausweg, oder werden sie wieder aneinander scheitern? Helga Flatland zeichnet dieses Familienporträt so schnörkellos und aus wechselnden Perspektiven, wie man es bereits aus ihrem vorigen Roman 'Eine moderne Familie' kennt. Sie läßt sich auf ihre Figuren empathisch ein, respektiert aber auch ihre Freiheiten. Und vor allem: Sie urteilt nicht. Denn es kommt ja nicht darauf an, wer woran wann schuld war, sondern einzig darauf: Wie machen wir weiter?

Helga Flatland hat norwegische Sprache und Literatur an der Universität Oslo studiert und danach ein Aufbaustudium an der Westerdals School of Communication absolviert. Sie lebt in Oslo. 'Zuunterst immer Wolle' (Originaltitel: 'Et liv forbi') ist ihr sechster Roman. Bereits im Weidle Verlag erschienen: 'Eine moderne Familie'. Elke Ranzinger studierte Theaterwissenschaft, Nordistik und Neuere Deutsche Literatur in Mu¨nchen und Bergen. Am Landestheater Linz brachte sie als Schauspieldramaturgin Stu¨cke von Aristophanes bis Jelinek mit auf die Bu¨hne. 2015 begann sie mit dem Übersetzen. Sie lebt in Berlin. Für den Weidle Verlag übersetzte sie bereits Helga Flatlands Roman 'Eine moderne Familie'.

 

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