Langeweile

Auf der Suche nach einem unzeitgemäßen Gefühl - Ein philosophisches Lesebuch

Renate Breuninger/Gregor Schiemann

226 Seiten

29,00 €
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Einleitung Ob sich die Menschen immer schon gelangweilt haben oder nicht, ist ungewiss. Gewiss aber ist, dass Langeweile in der abendländischen Kultur erst zu Beginn der Neuzeit zu einem Gegenstand des Nachdenkens geworden ist. Bedeutende Philosophen haben sie als Ausdruck einer wesentlichen Bestimmung des Menschen und seiner Welt verstanden: Der erste herausragende Beitrag stammt im 17. Jahrhundert von Blaise Pascal, der alle rastlose Tätigkeit des Menschen als Flucht vor der Langeweile erklärt; im 19. Jahrhundert behauptet Arthur Schopenhauer, dass das menschliche Leben zwischen Leid und Langeweile hin und her pendele; im 20. Jahrhundert schließlich erhebt Martin Heidegger die Langeweile zur Grundstimmung des Menschen, in der sich die Verfasstheit des Daseins erschließe. Der Langeweile ein solches Gewicht beizumessen, mag befremdlich erscheinen, bedenkt man den gemeinhin banalen Charakter dieses Gefühls. Als typisch langweilig gelten öde Orte, Tageszeiten (wie die Sonntagnachmittage), monotone Tätigkeiten oder seichte Unterhaltungen. Das unangenehme Gefühl wächst, wenn sich die lästige Situation nicht umgehen oder beseitigen lässt. Langeweile ist oft bloß Ausdruck eines Unmutes, der sich so wenig allgemein beschreiben lässt, wie er von persönlichen Vorgaben und inneren Einstellungen abhängt. Wäre Langeweile nur die Kundgebung eines konkreten Missfallens, hätte sie kaum das Interesse der Philosophie gefunden. Bereits Pascal stellt aber fest, dass Langeweile - in Französisch spricht er von "ennui" - auch aufzutreten vermag, wenn kein Gegenstand oder keine Situation für öde gehalten wird. Sie signalisiert nicht nur die Abneigung gegen etwas Vorhandenes, sondern tritt auch angesichts der Abwesenheit von Objekten sowie der eigenen inneren Leere auf (siehe in diesem Band). Nach Pascal bringt das Individuum in Situationen, in denen nichts Äußeres geschieht, aus sich selbst nur wenig hervor, so dass es ein Gefühl der Ruhe, aber auch der Leere überkommt. Und häufig ist die Langeweile mit einem unbestimmten Gefühl der Angst verbunden. Als Ausdruck eines horror vacui kann sie so universell verbreitet sein, dass sie zum Kennzeichen einer ganzen Kultur, wenn nicht sogar zum Kandidaten für eine Wesensbestimmung des Menschen aufsteigt. Sie zeigt den einzelnen Menschen in einer Verfassung, in der er nicht in der Lage ist, die wohltuende Wirkung der Ruhe für sich zu nutzen. Ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen, steckt die Langeweile hinter einer ubiquitären Suche nach Beschäftigung und Zeitvertreib. Dabei steht nicht der Inhalt der Tätigkeiten, sondern ihr bloßer Vollzug im Vordergrund. Während im folgenden Langeweile als konkrete Unmutsäußerung "einfache" Langeweile heißt, wird Langeweile, in der sich die innere Leere zeigt, als "existenzielle" Langeweile bezeichnet. Das philosophische Interesse an der existenziellen Langeweile gilt unter anderem ihrer anthropologischen Dimension, an die sich verschiedene Fragen knüpfen. Handelt es sich um ein spezifisches menschliches Merkmal (z.B. Johann Wolfgang von Goethe in diesem Band) oder tritt existenzielle Langeweile im Ansatz schon bei Tieren auf (z.B. Françoise Wemelsfelder in diesem Band)? Muss für den Menschen von einer kaum wandelbaren Bestimmung ausgegangen werden, so dass es wenig Erfolg verspricht, der existenziellen Langeweile entgehen zu wollen, es vielmehr darauf ankommt, sich mit ihr ins Verhältnis zu setzen? Oder ist Langeweile ein Phänomen der Moderne, dessen Auftreten aktuell zunimmt? Hängt sie von den Lebensumständen ab, mit denen sie sich verändert und auch wieder zum Verschwinden gebracht werden kann? Welches sind die Beziehungen zwischen existenzieller und einfacher Langeweile? Steckt in der einfachen immer schon etwas von existenzieller Langeweile? Mit der existenziellen Langeweile verbinden sich erkenntnistheoretische Interessen. Wo sie vorkommt, erlaubt sie eine einzigartig paradoxe Erfahrung - eine Erfahrung ohne Inhalt. Da die äußeren Objekte überhaupt gleichgültig sind und innere Impulse fehlen, scheint die Zeit alle Anhaltspunkte zu verlieren, an denen sie gemessen werden könnte. Das hierbei auftretende Zeiterleben findet sich auch bei der einfachen Langeweile. Die Zeit verlangsamt sich, ihre Einheiten werden gedehnt wahrgenommen, worauf die wörtliche Bedeutung des deutschen Begriffes "Langeweile" noch verweist. Das Vergehen der Zeit wird gleichsam rein, das heißt ungestört erfahrbar. Aber diese Erscheinungsweise ist von einem drohenden und oft als unerträglich erlebten Zeitstillstand begleitet. Die Zeit staut sich gewissermaßen, gewinnt dadurch eine Aufdringlichkeit und verliert den Charakter, Form der inneren Wahrnehmung zu sein. Nicht zuletzt wird die existenzielle Langeweile philosophisch auch als Begegnung mit dem Nichts interpretiert: Keine Stimmung kommt dem Nichts so nahe wie die existenzielle Langeweile. Sie hat damit ebenso nihilistischen Gehalt wie sie für die Lehre des Nihilismus eine grundlegende Erfahrung darstellt. Denker des Nihilismus wie Friedrich Nietzsche oder Emil Cioran haben sich mit der Langeweile befasst (vgl. in diesem Band). Dass die existenzielle Langeweile den Wert des Lebens radikal in Frage zu stellen vermag, haben allerdings auch andere - z.B. Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer (vgl. in diesem Band) - klar gesehen. Einfache und existenzielle Langeweile sind nicht die einzigen Bezeichnungen, die gewählt wurden und werden, um die Fülle von unterschiedlichen Formen der Langeweile zu klassifizieren. Martin Doehlemann unterscheidet etwa zwischen den Arten der situativen, überdrüssigen, existenziellen und schöpferischen Langeweile (in diesem Band); Hei­degger, um ein weiteres Beispiel zu nennen, hebt drei Formen voneinander ab: "das Gelangweilt werden von etwas", "das Sich-Langweilen bei etwas" und "die tiefe Langeweile als das es ist einem langweilig". Die Erscheinungsvielfalt korrespondiert mit der historischen und kulturellen Bedeutung des Phänomens und stellt für die vereinheitlichende Begriffsbildung eine Herausforderung dar. Manche Autoren bestreiten, dass sich eine gemeinsame Eigenschaft für alles, was Langeweile heißt, angeben lässt (vgl. in diesem Band Peter Toohey). Um das Interesse der Philosophie und die Absichten der vorliegenden Anthologie deutlich zu machen, genügt es, sich auf die beiden vorgestellten, weithin als Grundformen (wenn auch mitunter mit anderen Namen) anerkannten Typen zu beschränken. Für die philosophischen Diskussionen über die existenzielle Langeweile ist es typisch, dass sie die enge Verbindung zur einfachen Langeweile betonen. Für das, was in unserem Zusammenhang existenzielle Langeweile genannt wird, setzt Heidegger den Begriff der "tiefen Langeweile" ein. Als philosophische Grundstimmung unterscheidet er sie von der einfachen und verwendet sie deshalb, weil er das Dasein auf seine Seinsbestimmungen ("Existentialien") hin befragt. Dabei geht es ihm um ein Existieren als einen sich verstehenden Selbstvollzug. Genau diesen Sinn meint auch "existentiell" als ein Ausdruck der Existenzphilosophie: Das Dasein ist nicht durch sachhaltige Angaben zu definieren, sondern es ist Selbstvollzug. Wenn wir nun in unseren Ausführungen von existenzieller Langeweile reden, wird dies in einem weiteren, nicht nur existenzphilosophischen Sinn sein, der allgemein auf die innere Leere dieser Stimmung verweist. Obwohl die existenzielle Langeweile teilweise als spezifisch philosophische Stimmung, die nur Wenigen vorbehalten ist, angesehen wird, gehen doch in kaum einer ihrer Betrachtungen die Gemeinsamkeiten und die Beziehungen zur einfachen, jedermann bekannten Langeweile verloren. Bevor auf diese Verbindungen näher eingegangen wird, sind zunächst die bemerkenswerten Differenzen hervorzuheben. Sie haben einige Theoretiker (darunter Toohey in diesem Band) zur Behauptung veranlasst, dass die beiden Typen noch nicht einmal mit dem gleichen Wort bezeichnet werden dürften. Tatsächlich treten die beiden Typen nicht nur geme...

Langeweile wird in dieser Anthologie als Signatur der Moderne lesbar: Sie durchdringt die gegenwärtige Kultur, wird aber nach wie vor weggeschoben, ja tabuisiert. Der Band bietet eine Textauswahl von klassischen Denkern sowie von Autorinnen und Autoren des modernen Diskurses bis heute und stellt den Zusammenhang mit verwandten Phänomenen der Sinnleere und Erschöpfung her. Als zunehmendes Massenphänomen in saturierten Gesellschaften entwickelt die Langeweile eine pathologische Dynamik, wenn ihr nicht ein eigener Raum gelassen wird. Ein Plädoyer für die Anerkennung dieses unvermeidlichen Gefühls. Mit Texten von Blaise Pascal, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Søren Kierkegaard, Charles Baudelaire, Friedrich Nietzsche, Georg Simmel, Walter Benjamin, Bertrand Russell, Iwan Gontscharow, Siegfried Kracauer, Emil Cioran, Giacomo Leopardi, Wolf Lepenies, Elizabeth S. Goodstein, Peter Toohey, Martin Doehlemann, Françoise Wemelsfelder und anderen.

Renate Breuninger ist Geschäftsführerin des Humboldt-Studienzentrums für Philosophie und Geisteswissenschaften der Universität Ulm sowie apl. Professorin für Philosophie an der Universität Stuttgart. Gregor Schiemann, gelernter Werkzeugmacher, Diplom-Physiker und Philosoph, ist Professor für Philosophie an der Universität Wuppertal.

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Autor Renate Breuninger/Gregor Schiemann
Verlag Campus Verlag
ISBN 9783593517360
ISBN/EAN 9783593517360
Lieferzeit 5 Werktage(inkl . Versand)
Erscheinungsdatum 04.10.2022
Einband Kartoniert
Format 1.5 x 21.3 x 14.2
Seitenzahl 226 S.
Gewicht 283

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Verlag Campus Verlag
ISBN 9783593517360
Erscheinungsdatum 04.10.2022
Einband Kartoniert
Format 1.5 x 21.3 x 14.2
Gewicht 283

Einleitung Ob sich die Menschen immer schon gelangweilt haben oder nicht, ist ungewiss. Gewiss aber ist, dass Langeweile in der abendländischen Kultur erst zu Beginn der Neuzeit zu einem Gegenstand des Nachdenkens geworden ist. Bedeutende Philosophen haben sie als Ausdruck einer wesentlichen Bestimmung des Menschen und seiner Welt verstanden: Der erste herausragende Beitrag stammt im 17. Jahrhundert von Blaise Pascal, der alle rastlose Tätigkeit des Menschen als Flucht vor der Langeweile erklärt; im 19. Jahrhundert behauptet Arthur Schopenhauer, dass das menschliche Leben zwischen Leid und Langeweile hin und her pendele; im 20. Jahrhundert schließlich erhebt Martin Heidegger die Langeweile zur Grundstimmung des Menschen, in der sich die Verfasstheit des Daseins erschließe. Der Langeweile ein solches Gewicht beizumessen, mag befremdlich erscheinen, bedenkt man den gemeinhin banalen Charakter dieses Gefühls. Als typisch langweilig gelten öde Orte, Tageszeiten (wie die Sonntagnachmittage), monotone Tätigkeiten oder seichte Unterhaltungen. Das unangenehme Gefühl wächst, wenn sich die lästige Situation nicht umgehen oder beseitigen lässt. Langeweile ist oft bloß Ausdruck eines Unmutes, der sich so wenig allgemein beschreiben lässt, wie er von persönlichen Vorgaben und inneren Einstellungen abhängt. Wäre Langeweile nur die Kundgebung eines konkreten Missfallens, hätte sie kaum das Interesse der Philosophie gefunden. Bereits Pascal stellt aber fest, dass Langeweile - in Französisch spricht er von "ennui" - auch aufzutreten vermag, wenn kein Gegenstand oder keine Situation für öde gehalten wird. Sie signalisiert nicht nur die Abneigung gegen etwas Vorhandenes, sondern tritt auch angesichts der Abwesenheit von Objekten sowie der eigenen inneren Leere auf (siehe in diesem Band). Nach Pascal bringt das Individuum in Situationen, in denen nichts Äußeres geschieht, aus sich selbst nur wenig hervor, so dass es ein Gefühl der Ruhe, aber auch der Leere überkommt. Und häufig ist die Langeweile mit einem unbestimmten Gefühl der Angst verbunden. Als Ausdruck eines horror vacui kann sie so universell verbreitet sein, dass sie zum Kennzeichen einer ganzen Kultur, wenn nicht sogar zum Kandidaten für eine Wesensbestimmung des Menschen aufsteigt. Sie zeigt den einzelnen Menschen in einer Verfassung, in der er nicht in der Lage ist, die wohltuende Wirkung der Ruhe für sich zu nutzen. Ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen, steckt die Langeweile hinter einer ubiquitären Suche nach Beschäftigung und Zeitvertreib. Dabei steht nicht der Inhalt der Tätigkeiten, sondern ihr bloßer Vollzug im Vordergrund. Während im folgenden Langeweile als konkrete Unmutsäußerung "einfache" Langeweile heißt, wird Langeweile, in der sich die innere Leere zeigt, als "existenzielle" Langeweile bezeichnet. Das philosophische Interesse an der existenziellen Langeweile gilt unter anderem ihrer anthropologischen Dimension, an die sich verschiedene Fragen knüpfen. Handelt es sich um ein spezifisches menschliches Merkmal (z.B. Johann Wolfgang von Goethe in diesem Band) oder tritt existenzielle Langeweile im Ansatz schon bei Tieren auf (z.B. Françoise Wemelsfelder in diesem Band)? Muss für den Menschen von einer kaum wandelbaren Bestimmung ausgegangen werden, so dass es wenig Erfolg verspricht, der existenziellen Langeweile entgehen zu wollen, es vielmehr darauf ankommt, sich mit ihr ins Verhältnis zu setzen? Oder ist Langeweile ein Phänomen der Moderne, dessen Auftreten aktuell zunimmt? Hängt sie von den Lebensumständen ab, mit denen sie sich verändert und auch wieder zum Verschwinden gebracht werden kann? Welches sind die Beziehungen zwischen existenzieller und einfacher Langeweile? Steckt in der einfachen immer schon etwas von existenzieller Langeweile? Mit der existenziellen Langeweile verbinden sich erkenntnistheoretische Interessen. Wo sie vorkommt, erlaubt sie eine einzigartig paradoxe Erfahrung - eine Erfahrung ohne Inhalt. Da die äußeren Objekte überhaupt gleichgültig sind und innere Impulse fehlen, scheint die Zeit alle Anhaltspunkte zu verlieren, an denen sie gemessen werden könnte. Das hierbei auftretende Zeiterleben findet sich auch bei der einfachen Langeweile. Die Zeit verlangsamt sich, ihre Einheiten werden gedehnt wahrgenommen, worauf die wörtliche Bedeutung des deutschen Begriffes "Langeweile" noch verweist. Das Vergehen der Zeit wird gleichsam rein, das heißt ungestört erfahrbar. Aber diese Erscheinungsweise ist von einem drohenden und oft als unerträglich erlebten Zeitstillstand begleitet. Die Zeit staut sich gewissermaßen, gewinnt dadurch eine Aufdringlichkeit und verliert den Charakter, Form der inneren Wahrnehmung zu sein. Nicht zuletzt wird die existenzielle Langeweile philosophisch auch als Begegnung mit dem Nichts interpretiert: Keine Stimmung kommt dem Nichts so nahe wie die existenzielle Langeweile. Sie hat damit ebenso nihilistischen Gehalt wie sie für die Lehre des Nihilismus eine grundlegende Erfahrung darstellt. Denker des Nihilismus wie Friedrich Nietzsche oder Emil Cioran haben sich mit der Langeweile befasst (vgl. in diesem Band). Dass die existenzielle Langeweile den Wert des Lebens radikal in Frage zu stellen vermag, haben allerdings auch andere - z.B. Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer (vgl. in diesem Band) - klar gesehen. Einfache und existenzielle Langeweile sind nicht die einzigen Bezeichnungen, die gewählt wurden und werden, um die Fülle von unterschiedlichen Formen der Langeweile zu klassifizieren. Martin Doehlemann unterscheidet etwa zwischen den Arten der situativen, überdrüssigen, existenziellen und schöpferischen Langeweile (in diesem Band); Hei­degger, um ein weiteres Beispiel zu nennen, hebt drei Formen voneinander ab: "das Gelangweilt werden von etwas", "das Sich-Langweilen bei etwas" und "die tiefe Langeweile als das es ist einem langweilig". Die Erscheinungsvielfalt korrespondiert mit der historischen und kulturellen Bedeutung des Phänomens und stellt für die vereinheitlichende Begriffsbildung eine Herausforderung dar. Manche Autoren bestreiten, dass sich eine gemeinsame Eigenschaft für alles, was Langeweile heißt, angeben lässt (vgl. in diesem Band Peter Toohey). Um das Interesse der Philosophie und die Absichten der vorliegenden Anthologie deutlich zu machen, genügt es, sich auf die beiden vorgestellten, weithin als Grundformen (wenn auch mitunter mit anderen Namen) anerkannten Typen zu beschränken. Für die philosophischen Diskussionen über die existenzielle Langeweile ist es typisch, dass sie die enge Verbindung zur einfachen Langeweile betonen. Für das, was in unserem Zusammenhang existenzielle Langeweile genannt wird, setzt Heidegger den Begriff der "tiefen Langeweile" ein. Als philosophische Grundstimmung unterscheidet er sie von der einfachen und verwendet sie deshalb, weil er das Dasein auf seine Seinsbestimmungen ("Existentialien") hin befragt. Dabei geht es ihm um ein Existieren als einen sich verstehenden Selbstvollzug. Genau diesen Sinn meint auch "existentiell" als ein Ausdruck der Existenzphilosophie: Das Dasein ist nicht durch sachhaltige Angaben zu definieren, sondern es ist Selbstvollzug. Wenn wir nun in unseren Ausführungen von existenzieller Langeweile reden, wird dies in einem weiteren, nicht nur existenzphilosophischen Sinn sein, der allgemein auf die innere Leere dieser Stimmung verweist. Obwohl die existenzielle Langeweile teilweise als spezifisch philosophische Stimmung, die nur Wenigen vorbehalten ist, angesehen wird, gehen doch in kaum einer ihrer Betrachtungen die Gemeinsamkeiten und die Beziehungen zur einfachen, jedermann bekannten Langeweile verloren. Bevor auf diese Verbindungen näher eingegangen wird, sind zunächst die bemerkenswerten Differenzen hervorzuheben. Sie haben einige Theoretiker (darunter Toohey in diesem Band) zur Behauptung veranlasst, dass die beiden Typen noch nicht einmal mit dem gleichen Wort bezeichnet werden dürften. Tatsächlich treten die beiden Typen nicht nur geme...

Langeweile wird in dieser Anthologie als Signatur der Moderne lesbar: Sie durchdringt die gegenwärtige Kultur, wird aber nach wie vor weggeschoben, ja tabuisiert. Der Band bietet eine Textauswahl von klassischen Denkern sowie von Autorinnen und Autoren des modernen Diskurses bis heute und stellt den Zusammenhang mit verwandten Phänomenen der Sinnleere und Erschöpfung her. Als zunehmendes Massenphänomen in saturierten Gesellschaften entwickelt die Langeweile eine pathologische Dynamik, wenn ihr nicht ein eigener Raum gelassen wird. Ein Plädoyer für die Anerkennung dieses unvermeidlichen Gefühls. Mit Texten von Blaise Pascal, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Søren Kierkegaard, Charles Baudelaire, Friedrich Nietzsche, Georg Simmel, Walter Benjamin, Bertrand Russell, Iwan Gontscharow, Siegfried Kracauer, Emil Cioran, Giacomo Leopardi, Wolf Lepenies, Elizabeth S. Goodstein, Peter Toohey, Martin Doehlemann, Françoise Wemelsfelder und anderen.

Renate Breuninger ist Geschäftsführerin des Humboldt-Studienzentrums für Philosophie und Geisteswissenschaften der Universität Ulm sowie apl. Professorin für Philosophie an der Universität Stuttgart. Gregor Schiemann, gelernter Werkzeugmacher, Diplom-Physiker und Philosoph, ist Professor für Philosophie an der Universität Wuppertal.

 

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