Sommer

Roman

Geduhn, Felicitas

224 Seiten

22,00 €
Inkl. 7% Steuern

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Vor uns lagen vier Wochen Sommerferien. Genauso viele lagen hinter uns. Bergfest. Ab jetzt würden wir rückwärts zählen und uns rückwärts erinnern. An dem Tag, an dem uns das klar wurde, lagen wir bäuchlings ausgestreckt auf der Straße und stützten unser Kinn auf dem heißen Asphalt ab. Es war um die Mittagszeit, wir hätten uns keinen besseren Zeitpunkt am Tag aussuchen können. 'Guck dir das an. Der alte Schröder hatte recht.' Ich folgte Martins begeistertem Blick. Vor unseren Augen lag die Straße Richtung Kreisstadt unter Wasser und ging irgendwo fließend in den Himmel über. Links und rechts begleiteten staubig-hellbraune Wege die nasse Straße. Hinter uns näherte sich stotternd ein Auto. 'Kannste direkt reinspringen und losschwimmen. Und irgendwann biste in Timbuktu.' Martin kicherte, sprang auf und knuffte mich in die Seite. Timbuktu, Martins neuer Sehnsuchtsort, seit er im letzten Schuljahr das flüssige Lesen entscheidend für sich voranbringen konnte und allerlei wundersame Wörter für sich entdeckt hatte, die er in seinem Notizbuch verewigte. Timbuktu stand seither für etwas, das man dringend im Leben und am besten schon in diesem Sommer erreichen musste. Seit ich Martin kenne - so wie man jemanden kennt, über den man etwas erzählen kann - hatte er ein ausgeprägtes Interesse für schräge Experimente aller Art. Da kam ihm dieser Versuchsaufbau seines Lehrers für vielleicht gelangweilte Sommerferienkinder gerade recht. Wir warteten, bis sich das Auto entfernt hatte und schmissen uns wieder auf die Straße. Immer und immer wieder. Dabei vergrößerten wir den Abstand zwischen unserer Sichtachse und der Straße mit jedem Mal ein Stückchen mehr. Es war ein komplizierter Versuchsaufbau. Und ein langwieriger, da Martin jeden Zwischenstand gewissenhaft in sein Buch übertrug und auch, weil wir wegen der Autos ständig unterbrechen mussten. Ich war mir sicher, derart ausführlich war es vom alten Schröder gar nicht gemeint, blieb aber bei Martin. So war es meistens. Martin hatte eine Idee, für die er brannte, und ich leistete ihm treu Gesellschaft, indem ich mit ihm brannte. Im stillen Einverständnis hatten wir schon frühzeitig unsere Rollen gefunden und verteilt. Nur selten mussten wir etwas ausdiskutieren. Hier also galt es jetzt Folgendes zu beweisen: Je weiter wir unsere Sichtachse von der Straße nach oben verlagerten, also den Winkel vergrößerten, desto weniger blieb von den Luftspiegelungen oder Fata Morganas zu sehen, sie wurden kleiner. Martin liebte diese >Je-Desto-Sätze<, wie er sie nannte. 'Nur eins noch. Stell dich auf Zehenspitzen und mach dich groß. So groß wie du kannst', rief mein emsiger Cousin mir die Regieanweisung zu und ich streckte mich so gut ich konnte, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren.

'Der Sommer knallte. Alles knallte. Die Sonne, der Himmel, der Asphalt.' Ein kleiner ostdeutscher Ort an der Elbe: Die Luft flirrt, der Asphalt glüht, der Lehmboden auf den weiten Wiesen ist rissig. Annas Tage scheinen endlos. Vier Wochen Sommerferien liegen hinter Martin und ihr, vier Wochen noch vor ihnen, als ihre zeitlosen Kinderabenteuer plötzlich erste Einschnitte erleben. Denn mit elf Jahren beginnt man zu ahnen, was die Erwachsenen um einen herum längst wissen: wie man Kriege beginnt und verliert, wie man Mauern baut, Tiere einschläfert, Lügen für sich behält und wie man trotz Einschlägen im Leben - oder mit ihnen - weiterlebt. Bis die Freundschaft mit der siebzigjährigen Fanni Ereignisse in Gang setzt, die das Mädchen für lange Zeit prägen werden. Zehn Jahre danach hat Anna sich in der Anonymität der Großstadt ein eigenes Leben eingerichtet. Sie hält ihre winterkalte Welt leise und geordnet wie die Bücherstapel der Bibliothek, in der sie arbeitet, und wie die Gemüseschublade ihres Kühlschranks, in der die Schildkröte Greta überwintert. Doch als Jahre später das Haus, in dem Martin aufgewachsen ist, zum Verkauf steht, kehren beide zurück in den Kosmos ihrer Familie in dem kleinen, längst gewandelten Ort nahe der immer gleichen Elbe. Ein Roman über Freundschaft, Verlust und Heimat, der von Leerstellen und Rissen im Leben erzählt und davon, was aus ihnen entstehen kann.

Felicitas Geduhn wurde 1979 geboren. Dem Studium der Germanistik und Kulturwissenschaft in Bremen folgten einige berufliche Jahre in Berlin. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Metropolregion Hamburg.

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Autor Geduhn, Felicitas
Verlag S. Marix Verlag GmbH
ISBN 9783737412124
ISBN/EAN 9783737412124
Lieferzeit 5 Werktage(inkl . Versand)
Erscheinungsdatum 08.12.2022
Lieferbarkeitsdatum 10.03.2023
Einband Gebunden
Format 2 x 20.5 x 13.5
Seitenzahl 224 S.
Gewicht 352

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Verlag S. Marix Verlag GmbH
ISBN 9783737412124
Erscheinungsdatum 08.12.2022
Einband Gebunden
Format 2 x 20.5 x 13.5
Gewicht 352

Vor uns lagen vier Wochen Sommerferien. Genauso viele lagen hinter uns. Bergfest. Ab jetzt würden wir rückwärts zählen und uns rückwärts erinnern. An dem Tag, an dem uns das klar wurde, lagen wir bäuchlings ausgestreckt auf der Straße und stützten unser Kinn auf dem heißen Asphalt ab. Es war um die Mittagszeit, wir hätten uns keinen besseren Zeitpunkt am Tag aussuchen können. 'Guck dir das an. Der alte Schröder hatte recht.' Ich folgte Martins begeistertem Blick. Vor unseren Augen lag die Straße Richtung Kreisstadt unter Wasser und ging irgendwo fließend in den Himmel über. Links und rechts begleiteten staubig-hellbraune Wege die nasse Straße. Hinter uns näherte sich stotternd ein Auto. 'Kannste direkt reinspringen und losschwimmen. Und irgendwann biste in Timbuktu.' Martin kicherte, sprang auf und knuffte mich in die Seite. Timbuktu, Martins neuer Sehnsuchtsort, seit er im letzten Schuljahr das flüssige Lesen entscheidend für sich voranbringen konnte und allerlei wundersame Wörter für sich entdeckt hatte, die er in seinem Notizbuch verewigte. Timbuktu stand seither für etwas, das man dringend im Leben und am besten schon in diesem Sommer erreichen musste. Seit ich Martin kenne - so wie man jemanden kennt, über den man etwas erzählen kann - hatte er ein ausgeprägtes Interesse für schräge Experimente aller Art. Da kam ihm dieser Versuchsaufbau seines Lehrers für vielleicht gelangweilte Sommerferienkinder gerade recht. Wir warteten, bis sich das Auto entfernt hatte und schmissen uns wieder auf die Straße. Immer und immer wieder. Dabei vergrößerten wir den Abstand zwischen unserer Sichtachse und der Straße mit jedem Mal ein Stückchen mehr. Es war ein komplizierter Versuchsaufbau. Und ein langwieriger, da Martin jeden Zwischenstand gewissenhaft in sein Buch übertrug und auch, weil wir wegen der Autos ständig unterbrechen mussten. Ich war mir sicher, derart ausführlich war es vom alten Schröder gar nicht gemeint, blieb aber bei Martin. So war es meistens. Martin hatte eine Idee, für die er brannte, und ich leistete ihm treu Gesellschaft, indem ich mit ihm brannte. Im stillen Einverständnis hatten wir schon frühzeitig unsere Rollen gefunden und verteilt. Nur selten mussten wir etwas ausdiskutieren. Hier also galt es jetzt Folgendes zu beweisen: Je weiter wir unsere Sichtachse von der Straße nach oben verlagerten, also den Winkel vergrößerten, desto weniger blieb von den Luftspiegelungen oder Fata Morganas zu sehen, sie wurden kleiner. Martin liebte diese >Je-Desto-Sätze<, wie er sie nannte. 'Nur eins noch. Stell dich auf Zehenspitzen und mach dich groß. So groß wie du kannst', rief mein emsiger Cousin mir die Regieanweisung zu und ich streckte mich so gut ich konnte, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren.

'Der Sommer knallte. Alles knallte. Die Sonne, der Himmel, der Asphalt.' Ein kleiner ostdeutscher Ort an der Elbe: Die Luft flirrt, der Asphalt glüht, der Lehmboden auf den weiten Wiesen ist rissig. Annas Tage scheinen endlos. Vier Wochen Sommerferien liegen hinter Martin und ihr, vier Wochen noch vor ihnen, als ihre zeitlosen Kinderabenteuer plötzlich erste Einschnitte erleben. Denn mit elf Jahren beginnt man zu ahnen, was die Erwachsenen um einen herum längst wissen: wie man Kriege beginnt und verliert, wie man Mauern baut, Tiere einschläfert, Lügen für sich behält und wie man trotz Einschlägen im Leben - oder mit ihnen - weiterlebt. Bis die Freundschaft mit der siebzigjährigen Fanni Ereignisse in Gang setzt, die das Mädchen für lange Zeit prägen werden. Zehn Jahre danach hat Anna sich in der Anonymität der Großstadt ein eigenes Leben eingerichtet. Sie hält ihre winterkalte Welt leise und geordnet wie die Bücherstapel der Bibliothek, in der sie arbeitet, und wie die Gemüseschublade ihres Kühlschranks, in der die Schildkröte Greta überwintert. Doch als Jahre später das Haus, in dem Martin aufgewachsen ist, zum Verkauf steht, kehren beide zurück in den Kosmos ihrer Familie in dem kleinen, längst gewandelten Ort nahe der immer gleichen Elbe. Ein Roman über Freundschaft, Verlust und Heimat, der von Leerstellen und Rissen im Leben erzählt und davon, was aus ihnen entstehen kann.

Felicitas Geduhn wurde 1979 geboren. Dem Studium der Germanistik und Kulturwissenschaft in Bremen folgten einige berufliche Jahre in Berlin. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Metropolregion Hamburg.

 

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