Schlaftrunken

Roman

Biçakci, Hakan

188 Seiten

20,00 €
Inkl. 7% Steuern

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Ich ging zu meinem Stammcafé, wieder hatte ich vergessen, dass es das nicht mehr gab. Es fiel mir wieder ein, als ich im Schaufenster der Boutique, in die sich das Café verwandelt hatte, die affektierten Schaufensterpuppen wahrnahm. Wie wenn man bei einem Stromausfall ständig die Lichtschalter betätigt, führten mich meine Füße hierher, obwohl das Café längst dicht gemacht hatte. Ich brummte vor mich hin und ging weiter. In der Nähe fand ich ein anderes Café. Drinnen war es düster, der Tisch wackelte, die Musik klang grauenhaft, aber ich hatte mich schon hingesetzt. Ich bestellte Filterkaffee. Alle wollten bei dem Buchprojekt dabei sein. Mit einem Mittagessen und zwei Kaffeepausen beendete ich mein Tagewerk. Alles war bestens, aber ich war dem Ersticken nahe. In der Sommerhitze wurde man zu einer lächerlichen Version seiner selbst. Zum Glück wurde es allmählich dunkel. Die Sonne ließ von mir ab. Ich sah auf die Uhr und beschloss, trotz meiner Müdigkeit bis zu Elifs Haus zu laufen. Vom Tünel aus ging ich denselben Weg wie heute Morgen in Richtung Taksim-Platz. Nun waren aber Menschenmassen unterwegs. Sie wurden immer größer. Vor dem Galatasaray-Gymnasium standen auf beiden Seiten der Straße zwei riesige, schmutzig-weiße Wasserwerfer, versperrten fast den Durchgang. Die Massen zogen weiter, verengten, verdichteten sich und wurden langsamer. Die Straße glich einer Bombe kurz vor der Explosion. Noch bewegte sich nichts. Von weitem drang eine Sirene in mein Ohr, zerrte an meinen Nerven, bis ich merkte, dass es die Technomusik war, die aus dem Laden dröhnte, an dem ich gerade vorbeilief. Ein alter Mann saß direkt vor dem Laden und spielte Balama. In der Büchse vor ihm lagen ein paar Münzen. Man konnte zwar sehen, wie der Mann spielte, zu hören war er nicht. Der zur Sirene verzerrte Techno hinter ihm übertönte alles. Als ich die beiden Wasserwerfer passierte, musste ich mein Tempo drosseln. Ein rotgesichtiger Tourist mit einem auf Deutsch bedruckten T-Shirt untersuchte aus nächster Nähe die beiden Fahrzeuge: Modell zahmer Panzer und brutaler Militärjeep. Ich verstand den Aufdruck auf seinem T-Shirt nicht. Ich hatte wieder aufgehört, Deutsch zu lernen. Dabei war ich nicht schlecht darin. Ein vorlauter Gymnasiast schaute ihn an und rief: »Gleich gibt es Pfeffergas.« Dabei unterstrich er »gleich« mit einer entsprechenden Armbewegung. Statt Pfeffer sagte er »biber«, als ob der Mann das verstehen müsste. Das Wort »Gas« hauchte er beinahe mit einem englischen Akzent. Am nervösen Lächeln des Touristen sah man, dass er verstanden hatte. Hinter den Wasserwerfern standen die Polizisten. Ein dunkelblauer Haufen. Ich ging auf sie zu. Auf ihren Gesichtern schwankte ein müder Ausdruck zwischen Nervosität und Arroganz. Direkt daneben stand eine Gruppe Jugendlicher mit roten Fahnen und bereitete sich auf die Kundgebung vor. Die Fahnen waren noch eingerollt. Die Gruppe war noch dabei, sich zu versammeln. Eine vielköpfige Touristengruppe durchdrang sie ohne Eile. Allen voran der Reiseleiter mit seiner bunten Fahne an einer dünnen langen Stange. Die Gruppe lief ihm hinterher. Auf diese Weise ihre Neutralität ausdrückend, distanzierten sie sich von der Protestgruppe. Vor den wehrlosen Blicken der Polizisten rückten sie mit schnellen, kleinen Schritten zum Taksim-Platz vor. Von der Menschenmasse eingeklemmt, kam ich den Polizisten sehr nahe. Gerade als ich sie passieren wollte, berührte meine Hand das kalte Metall der Waffe eines der Polizisten. In dem Moment dröhnte es entsetzlich in meinem Ohr. Der Mara-Eis-Verkäufer hinter den Polizisten schlug mit aller Kraft seine Glocke. Dicht gedrängt standen die Menschen vor seinem Stand, lachten lauthals über seine Show, nahmen Fotos und Handyvideos auf. Mit dem kalten Schmerz der Waffe auf meiner Hand und dem Widerhall des Glockengeläuts in meinem Ohr ging ich weiter. Während ich lief, wurde die Menschenmasse dichter und der Weg schmaler. Ich überholte von links die Straßenkehrmaschine mit der Bürstenfront, die mehr Lärm verursachte, als dass sie reinigte, und beschleunigte meinen Gang. Es bot sich mir ein erstickendes Gemälde von streunende Hunden, obdachlosen Migrantenfamilien, im Familienverband flanierenden arabischen und allein oder paarweise reisenden europäischen Touristen, Fotoapparaten, Selfie-Sticks, roten Straßenbahnen, noch mehr Fotoapparaten, Polizei, Zivilisten, Vereinsflaggen, Spruchbändern, Wechselstuben, Flaneuren, Döner-Gerüchen, in dem alle und alles wahllos ineinander überging. Ich kam aus dem Gleichgewicht als ich mit dem linken Fuß auf eine seitlich abgestellte Personenwaage trat. Der alte Mann, der mit dem Wiegen von Passanten Geld zu verdienen versuchte, blickte auf. So, als verlangte er die halbe Wiegegebühr. Ich taumelte und stieß mit der Wange gegen das harte Glas einer Vitrine voller Lokum. Mein Wangenknochen pochte. Ein hässlicher Junge ging Darbuka spielend an mir vorbei. Sein Rhythmus begleitete das Pochen. Vor dem Lokum-Geschäft stand ein als osmanischer Sultan verkleideter junger Mann. Unsere Blicke trafen sich. Er war extrem dünn. Seine Handgelenke waren mit schmutzigen Mullbinden umwickelt. Er musste einen Selbstmordversuch unternommen haben. Er sah aus wie der Untergang des Osmanischen Reichs.

Was macht ein Endzwanziger, wenn er nicht in der Firma des Vaters im fernen deutschen Düsseldorf Karriere machen will? Er schreibt einen alternativen Reiseführer über seine Istanbuler Lieblingsorte, Cafés, Offtheater, Clubs und Buchhandlungen. Der Verlagsvertrag ist unterschrieben, eine hohe Auflage, Übersetzungen in mehrere Sprachen. Doch die Stadt verändert sich, Bagger rücken an, Läden schließen, über allem liegt Betonstaub und Lärm. Das Buchprojekt zerbröselt und mit ihm die Existenz seines Autors. Er erkennt seine Stimme nicht mehr, sein Gesicht ist ein anderes, seine Freundin macht sich Sorgen. Und dann diese Schlaflosigkeit, die ihn lähmt und nervös macht. Mühsam versucht er sein Leben zusammenzuhalten, mit Listen von Songtexten, Film-Noir-Listen, Listen der verschwindenden Orte. Der Riss in seinem Handydisplay wird immer größer, ebenso die Risse in den Wänden seiner Wohnung. Dann stirbt die geliebte Katze und in der zubetonierten Stadt findet sich kein Fleckchen Erde für ein Grab. Da beschließt der Endzwanziger, aus seinem Leben zu verschwinden, um der Schlaflosigkeit und seiner fremden Existenz zu entkommen. Kafkaesk könnte man Hakan Bçakcs Roman nennen, kafkaesk ist auch Istanbul - zwischen stiller und offener Repression, Gruben unter glatten Oberflächen, Zeichen an der Wand.

Hakan Biçakci, in Istanbul geboren, veröffentlichte bislang zwölf Bände mit Romanen, Erzählungen und Kurzgeschichten, schreibt Drehbücher, Literatur- und Filmkritiken und Comictexte.

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Autor Biçakci, Hakan
Verlag J & D Dagyeli Verlag GmbH
ISBN 9783935597661
ISBN/EAN 9783935597661
Lieferzeit 5 Werktage(inkl . Versand)
Erscheinungsdatum 08.05.2023
Lieferbarkeitsdatum 10.03.2024
Einband Gebunden
Format 1.9 x 21.8 x 14.7
Seitenzahl 188 S.
Gewicht 362

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Verlag J & D Dagyeli Verlag GmbH
ISBN 9783935597661
Erscheinungsdatum 08.05.2023
Einband Gebunden
Format 1.9 x 21.8 x 14.7
Gewicht 362

Ich ging zu meinem Stammcafé, wieder hatte ich vergessen, dass es das nicht mehr gab. Es fiel mir wieder ein, als ich im Schaufenster der Boutique, in die sich das Café verwandelt hatte, die affektierten Schaufensterpuppen wahrnahm. Wie wenn man bei einem Stromausfall ständig die Lichtschalter betätigt, führten mich meine Füße hierher, obwohl das Café längst dicht gemacht hatte. Ich brummte vor mich hin und ging weiter. In der Nähe fand ich ein anderes Café. Drinnen war es düster, der Tisch wackelte, die Musik klang grauenhaft, aber ich hatte mich schon hingesetzt. Ich bestellte Filterkaffee. Alle wollten bei dem Buchprojekt dabei sein. Mit einem Mittagessen und zwei Kaffeepausen beendete ich mein Tagewerk. Alles war bestens, aber ich war dem Ersticken nahe. In der Sommerhitze wurde man zu einer lächerlichen Version seiner selbst. Zum Glück wurde es allmählich dunkel. Die Sonne ließ von mir ab. Ich sah auf die Uhr und beschloss, trotz meiner Müdigkeit bis zu Elifs Haus zu laufen. Vom Tünel aus ging ich denselben Weg wie heute Morgen in Richtung Taksim-Platz. Nun waren aber Menschenmassen unterwegs. Sie wurden immer größer. Vor dem Galatasaray-Gymnasium standen auf beiden Seiten der Straße zwei riesige, schmutzig-weiße Wasserwerfer, versperrten fast den Durchgang. Die Massen zogen weiter, verengten, verdichteten sich und wurden langsamer. Die Straße glich einer Bombe kurz vor der Explosion. Noch bewegte sich nichts. Von weitem drang eine Sirene in mein Ohr, zerrte an meinen Nerven, bis ich merkte, dass es die Technomusik war, die aus dem Laden dröhnte, an dem ich gerade vorbeilief. Ein alter Mann saß direkt vor dem Laden und spielte Balama. In der Büchse vor ihm lagen ein paar Münzen. Man konnte zwar sehen, wie der Mann spielte, zu hören war er nicht. Der zur Sirene verzerrte Techno hinter ihm übertönte alles. Als ich die beiden Wasserwerfer passierte, musste ich mein Tempo drosseln. Ein rotgesichtiger Tourist mit einem auf Deutsch bedruckten T-Shirt untersuchte aus nächster Nähe die beiden Fahrzeuge: Modell zahmer Panzer und brutaler Militärjeep. Ich verstand den Aufdruck auf seinem T-Shirt nicht. Ich hatte wieder aufgehört, Deutsch zu lernen. Dabei war ich nicht schlecht darin. Ein vorlauter Gymnasiast schaute ihn an und rief: »Gleich gibt es Pfeffergas.« Dabei unterstrich er »gleich« mit einer entsprechenden Armbewegung. Statt Pfeffer sagte er »biber«, als ob der Mann das verstehen müsste. Das Wort »Gas« hauchte er beinahe mit einem englischen Akzent. Am nervösen Lächeln des Touristen sah man, dass er verstanden hatte. Hinter den Wasserwerfern standen die Polizisten. Ein dunkelblauer Haufen. Ich ging auf sie zu. Auf ihren Gesichtern schwankte ein müder Ausdruck zwischen Nervosität und Arroganz. Direkt daneben stand eine Gruppe Jugendlicher mit roten Fahnen und bereitete sich auf die Kundgebung vor. Die Fahnen waren noch eingerollt. Die Gruppe war noch dabei, sich zu versammeln. Eine vielköpfige Touristengruppe durchdrang sie ohne Eile. Allen voran der Reiseleiter mit seiner bunten Fahne an einer dünnen langen Stange. Die Gruppe lief ihm hinterher. Auf diese Weise ihre Neutralität ausdrückend, distanzierten sie sich von der Protestgruppe. Vor den wehrlosen Blicken der Polizisten rückten sie mit schnellen, kleinen Schritten zum Taksim-Platz vor. Von der Menschenmasse eingeklemmt, kam ich den Polizisten sehr nahe. Gerade als ich sie passieren wollte, berührte meine Hand das kalte Metall der Waffe eines der Polizisten. In dem Moment dröhnte es entsetzlich in meinem Ohr. Der Mara-Eis-Verkäufer hinter den Polizisten schlug mit aller Kraft seine Glocke. Dicht gedrängt standen die Menschen vor seinem Stand, lachten lauthals über seine Show, nahmen Fotos und Handyvideos auf. Mit dem kalten Schmerz der Waffe auf meiner Hand und dem Widerhall des Glockengeläuts in meinem Ohr ging ich weiter. Während ich lief, wurde die Menschenmasse dichter und der Weg schmaler. Ich überholte von links die Straßenkehrmaschine mit der Bürstenfront, die mehr Lärm verursachte, als dass sie reinigte, und beschleunigte meinen Gang. Es bot sich mir ein erstickendes Gemälde von streunende Hunden, obdachlosen Migrantenfamilien, im Familienverband flanierenden arabischen und allein oder paarweise reisenden europäischen Touristen, Fotoapparaten, Selfie-Sticks, roten Straßenbahnen, noch mehr Fotoapparaten, Polizei, Zivilisten, Vereinsflaggen, Spruchbändern, Wechselstuben, Flaneuren, Döner-Gerüchen, in dem alle und alles wahllos ineinander überging. Ich kam aus dem Gleichgewicht als ich mit dem linken Fuß auf eine seitlich abgestellte Personenwaage trat. Der alte Mann, der mit dem Wiegen von Passanten Geld zu verdienen versuchte, blickte auf. So, als verlangte er die halbe Wiegegebühr. Ich taumelte und stieß mit der Wange gegen das harte Glas einer Vitrine voller Lokum. Mein Wangenknochen pochte. Ein hässlicher Junge ging Darbuka spielend an mir vorbei. Sein Rhythmus begleitete das Pochen. Vor dem Lokum-Geschäft stand ein als osmanischer Sultan verkleideter junger Mann. Unsere Blicke trafen sich. Er war extrem dünn. Seine Handgelenke waren mit schmutzigen Mullbinden umwickelt. Er musste einen Selbstmordversuch unternommen haben. Er sah aus wie der Untergang des Osmanischen Reichs.

Was macht ein Endzwanziger, wenn er nicht in der Firma des Vaters im fernen deutschen Düsseldorf Karriere machen will? Er schreibt einen alternativen Reiseführer über seine Istanbuler Lieblingsorte, Cafés, Offtheater, Clubs und Buchhandlungen. Der Verlagsvertrag ist unterschrieben, eine hohe Auflage, Übersetzungen in mehrere Sprachen. Doch die Stadt verändert sich, Bagger rücken an, Läden schließen, über allem liegt Betonstaub und Lärm. Das Buchprojekt zerbröselt und mit ihm die Existenz seines Autors. Er erkennt seine Stimme nicht mehr, sein Gesicht ist ein anderes, seine Freundin macht sich Sorgen. Und dann diese Schlaflosigkeit, die ihn lähmt und nervös macht. Mühsam versucht er sein Leben zusammenzuhalten, mit Listen von Songtexten, Film-Noir-Listen, Listen der verschwindenden Orte. Der Riss in seinem Handydisplay wird immer größer, ebenso die Risse in den Wänden seiner Wohnung. Dann stirbt die geliebte Katze und in der zubetonierten Stadt findet sich kein Fleckchen Erde für ein Grab. Da beschließt der Endzwanziger, aus seinem Leben zu verschwinden, um der Schlaflosigkeit und seiner fremden Existenz zu entkommen. Kafkaesk könnte man Hakan Bçakcs Roman nennen, kafkaesk ist auch Istanbul - zwischen stiller und offener Repression, Gruben unter glatten Oberflächen, Zeichen an der Wand.

Hakan Biçakci, in Istanbul geboren, veröffentlichte bislang zwölf Bände mit Romanen, Erzählungen und Kurzgeschichten, schreibt Drehbücher, Literatur- und Filmkritiken und Comictexte.

 

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